WORTWELTEN

Kreativ schreiben – das erlernten, übten und erlebten Studierende im Rahmen eines Workshops des Schreibzentrums der LMU. Ende Juli lasen sie bei uns ihre Texte, die in diesem Zusammenhang entstanden sind, begleitet von den MusikerInnen Ray Moore und Teresa Gruber und unter der Moderation von Daniel Graziadei. Alle diejenigen, die nicht bei der Lesung waren, können hier nun in eine Auswahl einzelner Texte eintauchen.

Vielen Dank an die AutorInnen, dass sie die Texte zur Verfügung gestellt haben!

 

Veronika Huber: Purple Rain

Dieser lila Regen, von dem Prince so leidenschaftlich singt, ist er jemals schon gefallen?
Ist der Regen für uns nicht viel zu oft grau, kalt, unangenehm?
Das Magische, wenn Regen in lila Tropfen die Erde bedeckt und die alltägliche Straße schimmern lässt, erleben nur die Aufmerksamen und Sensiblen – Kinder, Künstler, Sehende…
Sie bleiben stehen, benetzt vom zarten Vorhang aus Wasser, schauen hin, erkennen, tanzen.
Die einen mit kleinen, bunten Gummistiefeln, patsch, patsch, durch Pfützen gehüpft, Hosen bespritzt;
Die anderen mit wiegendem Schritt, ¾-Takt über den spiegelnden Asphalt, etwas schwerfälliger aber doch zielstrebig, beschwingt
Die Musik der Wasserkristalle – blau, rot, gelb; blau, rot, lila – spielt wie eine Schallplatte im Herzen.
Funkelnde Lichtpunkte tanzen mit, immer schneller, immer schöner.

Warum brauchen wir die Sonne, um gute Laune zu haben? Woran liegt es, dass wir den Regen als negativ empfinden? Ist es ein psychologischer Effekt, bei dem das verheißungsvolle Sonnengelb die Gedanken an die möglichen Unternehmungen, die der Tag bringen könnte, in Gang setzt? Ein Ausflug ins Grüne, Freiheit, Wind im Haar; ein Fußballspiel, das an diesem Tag einfach gewonnen werden muss; ein Treffen mit Familie oder Freunden, bei dem Gelächter und gute Laune die Zeit bestimmen.
Strahlende Glücksverheißung
Das alles ist bei Regen nicht denkbar. Bei grauem Himmel oder Regentropfen verspürt man eher Lähmung – es scheint so als würden die Wolken den Geist vernebeln und alle Motivation dämpfen. Wenn man dann das Haus verlässt, tritt man in die erste Pfütze, der Bus fährt einem vor des Nase weg und die unangenehme Aufgabe in der Arbeit bleibt sicher an einem selbst hängen.
Aber muss das so sein? Was wäre, wenn wir die Sonne unabhängig vom Wetter draußen einfach in uns tragen würden? Könnten wir dann den Regen nicht lila färben?

Wir freuen uns einfach über ein paar Minuten Zeit zu träumen, wenn wir auf den nächsten Bus warten, strahlen alle finsteren Gesichter, denen wir begegnen, an und freuen uns, dass wir nicht allein auf der Welt sind. Das lautstark geführte Handygespräch unseres Sitznachbarn nehmen wir als kuriose Unterhaltung hin und über das undefinierbare Gericht in der Kantine schütteln wir zwar den Kopf, aber freuen uns auf die Pizza, die wir uns dafür abends gönnen.
Wie viel mehr Freude hätten wir am Leben, wenn wir die Sonne an jedem Tag scheinen ließen? Wie viele nutzlose Minuten würden wir uns ersparen, wenn wir über die nichtigen Kleinigkeiten, die uns im Moment irritieren/ stören/ aufhalten, hinweg sähen und der vielen wichtigen Kostbarkeiten gewahr würden, die wir für selbstverständlich halten, die unser Leben bunt machen.
Die Sonne würde so immer und für alle scheinen und der Regen könnte lila werden.

Also zieht eure Schuhe an oder tappt barfüßig aus dem Haus, haltet Ausschau nach Wolken – nicht den flockig-leichten, sondern nach den dunklen, schweren – und lauft ihnen nach, sucht sie, wartet
Und dann, sobald Regenduft die Luft erfüllt, sich Wege leeren und die Menschen sich verstecken,
wenn ihr den ersten lila Funken seht,
dann breitet die Arme aus
– und tanzt.

 

Jakob Hauser: Avocado

Der Regen hämmerte gegen das Doppelglasfenster des kleinen Apartments in der ersten Etage des Plattenbaus. Ein verkalkter Wasserhahn tropfte in einem ungleichmäßigen Takt in die Schüssel im Spülbecken. Dieses Zusammenspiel war die Hintergrundmusik, der Soundtrack für die Szenerie.

Sein Blick glitt vom Wasserhahn über die schwarzen Bücherregale zu dem alten Chesterfield in der Ecke. Sein Telefon lag dort. Es warf in regelmäßigen Abständen einen Lichtschein an die Decke und erhellte den dunklen Raum. Es rief nach ihm. Er lag auf dem Bett und atmete schwer. Ihm war schlecht. Er zog seinen Kopf nach oben, weg von dem alten Sessel und musterte den schwarzen Schreibtisch auf dem sich Briefe stapelten.
Eine Zigarette in einem übervollen Aschenbecher, die nicht ganz ausgedrückt worden war, ließ eine Rauchsäule zur gelben Decke steigen. Er drehte sich zur Wand.
Alles schien Erinnerungen zu wecken. Er fuhr mit seiner linken Hand durch seine Haare und endete bei seinem Nacken, massierte diesen kurz und rieb sich dann heftig die müden Augen, während er lange seufzte. Er hielt seine Hände vor sein Gesicht und betrachtete die raue, trockene Haut. Er hatte versagt. Mal wieder. Er hatte ihr versprochen, dass sich nichts ändern würde und alles hatte sich verändert. Er war alleine in seiner Wohnung. Das alte Bett knarzte, als er sich langsam aufrichtete und einen Zettel von dem kleinen weißen Hocker neben ihm nahm.
„Nudeln, Tomaten, Käse, Reis, Avocado“
„…Avocado.“, laß er ein weiteres Mal.
Er ließ den Zettel fallen und glitt zurück auf das Bett.
Alles hatte sich verändert.

Er wollte den Gedanken nicht weiterdenken. Wann würde endlich Ruhe einkehren?
Der Regen schwoll an als er das Gesicht in einem kleinen Kissen vergrub.
Sie war irgendwo. Sie saß vielleicht in ihrer Wohnung zwei Querstraßen von seiner entfernt. Er konnte sie vor sich sehen. Sie saß auf dem alten Holzstuhl. Dem weißen, mit dem groben, braunen Bezug. Sie hatte einen Fuß auf den Stuhl gesetzt, das Bein an den Körper gezogen. Der andere Fuß ruhte auf einem kleinen Schemel mit einem häßlichen Blumenmuster. Ihr Kopf lag in ihrer rechten Hand. Mit der linken ließ sie einen Stift durch die Luft kreisen, während sie auf ein Buch vor ihr blickte. Das war sie. So kannte er sie. Ihr schön geschwungener Hals und die kurzen dunklen Haare. Oft hatte er sie so gesehen.

Doch er wusste was bald eintreten würde. Sie würde einschlafen. Sie mochte es nicht zu lesen. Sie mochte keine Bücher. Sie verstand Bücher nicht. Jede Art von Text ermüdete sie. Vor einem Jahr war sie in ein Schlaflabor gegangen, weil sie glaubte an Narkolepsie zu leiden, die von Büchern ausgelöst wurde. Natürlich fielen alle Tests negativ aus. Sie wollte der Realität nicht ins Auge sehen. Es war ihr peinlich gewesen und so suchte sie verzweifelt nach Erklärungen. Oft hatten sie zusammen an dem Küchentisch ihres Mannes gesessen. Ihre Hand in der seinen und er hatte aufgeregt von seinem Lieblingsbuch erzählt. Er wollte sie begeistern, aber sie ließ es nicht zu. Ein andermal hatte er ihr vorgelesen. Nach der zweiten Zeile verlor sie das Interesse.

Mit einem Ruck drehte er sich wieder um und stand so schnell auf, dass ihm etwas schwindlig wurde. Er ignorierte die Signale seines Körpers, nahm den kleinen Zettel vom Boden und zerknüllte ihn so fest, dass sich seine Fingerknöchel weiß abzeichneten. Mit großen Schritten verließ er seine Wohnung. Die Haustüre knallte hinter ihm zu. Im Laden um die Ecke stand er in der Gemüseabteilung und kaufte drei Avocados.
„Siehst du mal!“, dachte er sich.

 

Anna Haller: Sinnflut

Das Leben fällt in Hagelbällen auf seinen Kopf, seine Gedanken donnern blitzen, gewittern – alles so laut. Er wünscht seinen Kopf leerer als nur einfach leer, nur leer ist nicht genug – Stille muss sein, Stille muss rein, Stille muss bleiben, und er wiederholt Stille im endlosen Kreis, und sucht irgendwo im Nirgendwo seiner Gedankenflut einen kleinen Sessel für die Stille, einen Ort von dem sie sich ausbreiten, entspannen, sein kann.
Doch die Realität ist voll und seine Gedanken Sinnflut von Widersprüchen und Fetzen, die sich nie zu Ende denken, und Zweifel, die ihm Ängste schenken aber niemals Ruhe, immer laut, immer so laut, immer so voll und niemals eins, immer so viel und er liegt erdrückt darunter und er sucht sich darunter aber er findet sich nicht und wie soll er denn finden, und was wird er denn finden und was wenn er einfach nur das ist? Zwischen Widersprüchen und Gedankenbrüchen, zwischen Gegensätzen und Charakterfetzen, zwischen damals und jetzt, irgendwo ist es vernetzt und er denkt an später, denn vielleicht dann, irgendwann, vielleicht was anderes. Und egal was, denn eins kann man ändern, aber nicht alles.
Er will doch einfach nur frei sein, frei von zu viel Wissen, frei von zu viel Gedanken, frei von Verwirrung aber außen Beschränkung und innen Explosion. Und außen Hagel und innen noch ein Fetzen Sonne aber sie stirbt im Hagel und so kann sie nicht, sie kann sich nicht mehr zeigen. Und so war als es begann und wie es ausging, ein freies Kind nur Sonne darin, nur Liebe und Freiheit und Schwachsinn, später ein bisschen Rebellion und dann Ernst und Scheitern und Lethargie und Resignation.
Und das Lachen stirbt im Widerspruch vom Selbst zum Kollektiv, vor allem außen und immer ein bisschen innen und alles was er war ist jetzt in ihm Verwirrung des Widerspruchs und alles was er wünscht ist entfernte Utopie.

Im Sehnen und Suchen beginnt er die Poesie, denn im verworrensten Fiktiven findet man immer Harmonie, nur die Realität erreicht sie nie und vielleicht auch nicht der Inhalt aber was am Ende bleibt ist eine zweiäugige Wahrheit, wenn Worte verblassen im Raum, und Sätze hier rein und hier raus, raus, es soll nur raus, denn es sucht nicht mal Verständnis nur ein bisschen Gefühl.
Und vielleicht irgendwann, wenn außen alles auf Papier gefasst und im Raum verblasst hat auch im Inneren die Stille einen kleinen Platz.

 

Louisa von Sohlern

Wenn man sich viel mit Sprache beschäftigt, vielleicht gerade eine lernt oder einfach nur zu viel Zeit hat, um über solche Dinge nachzudenken, fallen einem schnell Eigenheiten von Sprache auf. Ich stehe hier, bin wahnsinnig aufgeregt und habe einen Frosch im Hals. Wäre ich Französin, hätte ich „un chat dans la gorge“ – eine Katze in der Kehle.
Letztens bin ich über eine ganz bestimmte Redewendung gestolpert, kennen Sie sicher: Jemandem sein Herz ausschütten. Seltsam oder? Als wären unsere Herzen Eimer, die wir vor jemand anderem auskippen. Einfach vor die Füße.
Und wenn das Herz einmal ausgeschüttet ist, wie wird es dann wieder voll? Darf der andere das dann aufputzen und wieder zurück in den Eimer füllen? Das stell ich mir ziemlich kacke vor. Das Wort „ausschütten“ impliziert ja, dass da eine Flüssigkeit verteilt wird. Jetzt putze mal eine Flüssigkeit auf, ohne dass etwas davon verloren geht. Da kommt mehr Dreck als alles andere mit. Also: keine so gute Idee.
Eine andere Möglichkeit wäre noch, dass der mit den nassen Füßen von seiner Herzflüssigkeit was abgibt. Angenommen er träte dabei die Hälfte ab und angenommen diese Herzflüssigkeit wäre überlebenswichtig, dann dürfte es beiden Beteiligten grad ziemlich dreckig gehen. Und es stellt sich mir die Frage, warum man sein Herz dann überhaupt ausschüttet, wenn die Flüssigkeit so wichtig ist.
Unsere Protagonisten hängen gerade beide in den Seilen, circa die Hälfte der Flüssigkeit ist weg. Was tun? Vielleicht gibt es ja einen Herzflüssigkeitsauffüllnotdienst, kurz HAN. Dann rufst du statt der 110 die 437 oder so und dann kommen die mit einem Tanklaster an gedüst und hängen dich an den Schlauch. – Wo haben die jetzt ihre Reserven her? Heißt das, wir gehen regelmäßig Herzflüssigkeit spenden? Dann müsste es ja Leute geben, die zu viel davon haben. Werden die dann auch vorher getestet, ob sie für das Spenden geeignet sind? Und dürfen Schwule und Pathologen dann auch Herzflüssigkeit spenden?
Oder die Flüssigkeit müsste sich irgendwie regenerieren. Wenn sie sich regenerieren würde, wäre der Herzflüssigkeitsauffüllnotdienst überflüssig. Außer, die Herzflüssigkeit kann sich nicht so schnell erholen und es ist eine Erste Hilfe-Maßnahme notwendig. Einigen wir uns darauf, dass der Herzflüssigkeitsauffülldienst nicht überflüssig ist und kommen wir zu der Frage, warum wir unser Herz überhaupt ausschütten, wenn das so ein Gschiß ist.
Wir benutzen diese Redewendung, wenn jemand Kummer hat und seine Sorgen einer anderen Person anvertraut. Naheliegend wäre also, dass der Kummer die Herzflüssigkeit verdirbt, sodass wir sie wegschütten müssen. Ein Reinigungsprozess. Wie das abgestandene Wasser in einem Aquarium, das wir wechseln, damit Nemo nicht stirbt. Mit anderen Worten, wir kippen jemandem unser Brackwasser vor die Füße und verlangen von dieser Person, sich in Lebensgefahr zu begeben, indem sie was von ihrem frischen Wasser abgibt. So: Wusch. Und jetzt gib’ mir deins.
Da bin ich lieber der Kummerkasten. Gesteckt voll, aber keine nassen Füße.

 

Jerri Bazata: Chronostasis

Der Blütenstaub in meiner Nase bringt mich zum Niesen. Ich öffne die Augen. Schaue nach oben, in einen Himmel aus Grün und Rosa. Schau nach unten, auf eine weite, noch nicht wirklich grüne Wiese, deren harmonisches Erscheinungsbild durch die grellbunten Vierecke der Picknickdecken immer wieder durchbrochen wird. Hier oben sind wir alleine. Aikos Kopf liegt auf meiner Brust, sie atmet langsam und leise. Ich streiche durch ihr dichtes schwarzes Haar, das sich wie eine Decke über mich legt, zupfe einige der hinabschwebenden Kirschblüten und ein paar Ängste aus dem Gewirr. Mir fällt auf, dass sich zu ihren eher sanften, japanischen Sorgen immer mehr meiner hartnäckigen, deutschen Selbstzweifel gesellen, die sich nur mit sehr viel Feingefühl und Zeit aus ihrem Haar kämmen lassen. In der Ferne hört man träge einen Kuckuck rufen, die Terz des Frühlings. Nach einer Weile dreht Aiko ihren Kopf, sodass auch sie das Blattwerk der Kirsche über uns betrachten kann, murmelt „京にいて、京なつかしや、ホトトギス. Schön wäre es ja.“. Damit steht sie auf, klopft Kuchenkrümel und Sakurablüten von ihrem Kleid ab, streckt sich gähnend. Auch ich stehe auf, packe unsere leeren Bierdosen und Tupperboxen in meinen Rucksack, löse das Seil, das uns auf der Erde gehalten hat, vom Baum. Gemeinsam verlassen wir diesen Moment, gehen nun nebeneinander, aber nicht zusammen durch den Olympiapark zum alten Trambahnhof, folgen den stillgelegten Gleisen in eine neue Nacht. Während ich mich im Anblick von Aikos Füßen, die sie bedächtig nacheinander, Schritt für Schritt auf die alte Stahltrasse setzt, verliere, wird es endgültig dunkel. Irgendwo über meinem Kopf dreht sich irgendein Planet, was mich wohl irgendwie berühren sollte. Einer dieser neuen Elektrobusse schiebt sich unauffällig vorbei, während Aiko ein paar Schritte vor mir im Lichtkegel einer Straßenlaterne stehenbleibt, sich umdreht, mich fragend ansieht, wobei ihr sich im leichten Wind wiegendes Haar nach und nach alles Licht verschluckt und ihre Silhouette an den Rändern langsam ausfranst. Ich ziehe die beiden letzten 350ml-Dosen aus meinem Rucksack, lasse ihn dann am Straßenrand liegen und kann nun endlich zu ihr aufholen. Ich reiche ihr die eine Dose, öffne meine und nippe. Auch sie trinkt, mit geschlossenen Augen nimmt sie einen tiefen Schluck. Das Bier bindet mich für einen Moment länger an sie, als sich unsere Hände zufällig berühren fühlt es sich an, als würde ihre Haut unter meiner leicht schmelzen. Verwundert schaut sie ihren Handrücken an, wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr, die sie an der Innenseite ihres Handgelenks trägt, schüttelt den Kopf. Sie geht weiter, ungefähr 85bpm, summt dazu eine leise Melodie voller Terzen, die mir vage bekannt vorkommt. Ich mache die Augen zu, nur kurz, eine Sekunde, zwei vielleicht, länger
geht es nicht. Nur etwas länger und ich bin mir sicher, die Nacht würde Aiko endgültig an sich nehmen, sie ertränken und festhalten, fester als ich es je könnte. Die Tramschienen der Stadt München würden ihre Schienen werden, die sie davontrügen, zurück in ihre Heimat, ihre Zukunft, während ich, aus Mangel an beidem, hier bleiben würde, womit die Ordnung der Dinge wohl wiederhergestellt wäre. Ein paar Meter weiter vorne zittern Aikos Schultern in der Frühlingsluft leicht, während die Ampel über ihr in einem pelzigen Gelbton leuchtet. Ich fahre mir durch die Haare, bekomme eine liegengebliebene Kirschblüte zu fassen, reiße dabei ein, zwei Haare aus. Schließe die Augen.

 

Julian Mühlfellner: Nunchi

Nunchi ist ein Neologismus, der circa vor zwanzig Jahren in Südkorea aufgekommen ist. Nun bedeutet fett, und Chi bedeutet Hand; Nunchi ist also die fette Hand, oder auch das Handfett. Der Begriff kommt aus der Untergrund Hardcore-Punk und Grind-Szene und wird oft als Protestruf und Beleidigung gegen die vorherrschende Kultur des Landes verwendet. Nunchi beschreibt in etwa die weiche, seifige Hand eines städtischen Durchschnittssüdkoreaners, der seinen Alltag zubringt, ohne jemals einen ernsthaften Handgriff tun zu müssen. Das Essen kommt aus leichten Plastikboxen, das Klopapier ist weich, und alles andere passiert sowieso nicht mehr im Raum, am Körper, sondern nur noch online. Die Hand wird fett und sanft.
Die fette Hand ist also auch eine Philosophie und stützt sich auf das Werk Paul Virilios, des postmodernen, katholischen Denkers. Nunchi hat sich dem spirituellen Materialismus verschrieben und tritt der unnachgiebigen Techno-Euphorie der südkoreanischen Gesellschaft vehement entgegen. Der spirituelle Materialismus ist eine Obsession mit den körperlichen Empfindungen des Menschen, unter Ausschluss des Sehnervs. Nunchi-Punks misstrauen Ihren Augen, die sie für die kontemporäre Sucht nach virtuellen Erlebnissen und das Vernachlässigen aller anderen Sinne verantwortlich machen. Ihre Auftritte spielen sie oft im Dunklen und zerschreddern sich dabei bewusst die Fingerkuppen an ihren Gitarrensaiten, um wieder etwas zu fühlen und ihren Protest zum Ausdruck zu bringen.
Die Nunchi, die Punk-Propheten der fetten Hand, sind großteils mittleren Alters und kommen aus der Mitte der Gesellschaft, aus dem mittleren Management und der gehobenen Beamtenschaft. Sie haben Ehegatten und Kinder. Nichtsdestotrotz spielen Sie den härtesten Grind auf der Koreanischen Halbinsel.
Die südkoreanische Gesellschaft beäugt sie dabei misstrauisch. Das Innenministerium wartet auf einen Grund, die Anhänger der Szene unter Beobachtung zu stellen, das Volk ist unruhig. Eissalons leiden unter den Nunchi-Punks, die dort in Horden auftauchen und ihre Zungen und Zähne in Eis versenken, um die
brennende Kälte zu erfahren. Die fette Hand wird davon auch nicht dünner.

Christine Meier: Täuschung

Per Rundmail der Aufruf zur Teilnahme an einem neuen Forschungsprojekt über das Thema, wie matcht man zwei Personen am besten für eine erfolgreiche Mentoringbeziehung? „Klar, da mache ich mit, ich will ja die Forschung unterstützen“ murmele ich vor mich hin, beginne den Fragebogen mechanisch auszufüllen, da lernt man immer was dazu. Äähh, stopp, was sind eigentlich meine Interessen? Von welchem Tätigkeitsbereich und mit welchen Interessen möchte ich überhaupt jemanden kennenlernen? Eher kreativ, kaufmännisch, gar erfolgreich? Vielleicht mit ungewöhnlichen Interessen, was ist eigentlich ein ungewöhnliches Interesse, was nicht sofort ins Negative abgleitet? Ich will netzwerken, Netzwerken ist immer gut, netzwerken, die Spinne webt an ihrem Netz, es wird größer, dehnt sich aus, wird glitzernder.
Der Fragebogen ist endlich vollständig von mir ausgefüllt, per Email an die Organisation des Projektes abgeschickt, die Maschinerie setzt sich hoffentlich schnell in Gang, klack klack, ich werde gematcht, hoffentlich ein Treffer! Oder passe ich vielleicht zu niemanden? Kann nicht gematcht werden, bin zu uninteressant, zu wenig aussagekräftig in meinen Antworten auf die zahlreichen Fragen über mich, einfach Material, was nicht gebraucht wird?
Ping – Tage später kommt endlich eine Email Nachricht in meinem Postfach an. Treffer, ich bin gematcht mit Melanie. Glückwunsch, Glücksgefühle wie beim Gewinnspiel, mein Preis heißt Melanie, ich erhalte die Email Adresse von Melanie mit der Aufforderung, ein Treffen zu vereinbaren. „Mache ich sofort“ sage ich laut vor mich her, meine Finger fliegen über die Tastatur meines Mac Laptops, eher businessmäßig mache ich Terminvorschläge an Melanie. Ping – Emaileingang von Melanie, Termin steht fest für nächste Woche Mittwoch.
Einen Tag vor unserem geplanten Treffen bittet Melanie per Email mit Kennzeichnung wichtig um die Verschiebung unseres Termines um eine Woche. Ich bin genervt, man sagt mir ab, kurzfristig, ich will keine Absagen erhalten, Absagen kränken mich. Ich habe keine Lust mehr auf das Matching, das Projekt. Alles erscheint mir schwierig „Wieso habe ich mich überhaupt dafür angemeldet? schießt es mir durch den Kopf. „Soll ich einfach sagen, dass ich nicht mehr interessiert bin?“ „Nein, ich kann jetzt nicht absagen, ich ziehe das jetzt durch.“
Der neue Termin für unser Treffen rückt näher, ich habe überhaupt keine Lust auf das Kennenlerngespräch, google Melanie im Internet, um ein Foto von ihr zu erhalten. Ich finde eines, das Foto beurteile ich als langweilig, durchschnittlich, irgendwie doch unsympathisch.
Der besagte Mittwoch 16 Uhr, Vapiano am Zentralen Busbahnhof in München, unser Treffpunkt, „ich will nicht“ schießt es mir durch den Kopf, ich bin aber am verabredeten Ort, genervt und will die Sache schnell hinter mich bringen.
Ich halte Ausschau nach Melanie, möglichst unauffällig, ich will mich ja nicht blamieren. Am Ende kommt taucht sie nicht auf, wie peinlich, wenn das jemand mitbekommt. Ich sehe niemanden, der der Melanie auf dem Foto dass ich gegoogelt habe ähnlich sieht. Stattdessen sehe ich eine sympathische hübsche Frau in meinem Alter, also mittleres Alter, ihr Lachen ist sehr sympathisch, sie stellt sich als Melanie vor, unser Gespräch über Matching und unseren gemeinsamen Interessen verläuft mühelos, echtes Interesse von beiden Seiten keimt auf, nach 5 Minuten Gespräch mit ihr bin ich total begeistert.

 

Wenjun Lisa Chi: 123

Ich renne
Immerzu auf dich zu

Ich renne und rannte und rannte
Und renne
Immer noch
Immer zu
Auf dich zu

Auf dich
die kein anderes
Sein kann
Kein anderes jemals
Jemand
Sein kann

Ich renne
Und renne
Und renne
Und ich
Rannte

Bis meine Beine
Mich noch immer trugen
Ja noch immer
Nur für

Mein Rennen
Dein Rennen
Deines
Deines
Nur für dich

Mein
die
Die nichts anderes sein kann
Als
Als

Das
Jemand
Das
Jenige
Die
Die

Die
Renn
Sage ich mir
Jetzt
Sage ich
Jetzt
Renn
Die

Ja
Jetzt
Renn und
Rannte

Und

Warte
Atme
Warte

Und

Eins
Zwei
Drei
Zwei
Drei
zwei

Eins
Eins
Zwei

Eins
Eins
Ramm

Zwei
Zwei
ramm

Sam

Eins
Ein
Sam

Zwei
Zwei
Sam

Keit

Danke.

 

Jannike Regulski: Scherben

Die Welt betrachten, wie durch eine gesprungene Linse,
Wie in den Scherben eines Spiegels.
Gleichzeitig da … und nicht da.
Licht spielt über glänzende Oberflächen. Über Kanten.
Bricht.
Zersplittert selbst. Zersplittert die Welt.
Erschafft Farben. Erschafft … Realität.
Sie ist da … und nicht da.
Was ist da?
Licht, das zwischen den Scherben spielt.
Bilder erschafft.
Etwas wie Leben, zwischen all dem gesprungenen Glas.
Und mit dem Leben, Gefühl.
In dieser abgeschnittenen Welt.
Warmes, helles Licht. Selbst die ganze Welt.
Es scheint nicht bloß auf Scherben.
Scheint auf zersplitterte Gedanken.
Auf etwas hinter dem Spiegel.
Den Wunsch, das Licht zu spüren.
Die Wärme.
Die Welt.
Neue Farben, neue Bilder erschaffen.
Sie zwischen den Scherben tanzen zu lassen, erschafft … Realität.
Erschafft Gefühl.
Leben.
Existenz außerhalb von Gedanken.
Klarheit innerhalb von Scherben.

Janine Napirca: Meine Inspiration

Die Inspiration, die ich seit jeher in mir trage, trage ich in mir. Sämtliche Einflüsse von außen
treffen sich in mir. Beratschlagen sich, bekämpfen sich. Der Stärkere gewinnt und nimmt fortan
Überhand über meine Gedanken, wird selbst zur Inspirationsquelle in mir. Viel habe ich beobachtet,
gefühlt. Und jetzt stehe ich hier. In mir die Angst, mich selbst zu verlieren. Ich bin mir so fremd
geworden, sehe die Welt nunmehr viel mehr mit deinen Augen. Du bist die Stimme in mir, meine
Seele verwandelte sich in deine. Auf dem Weg, dich besser zu verstehen, habe ich mich selbst
verloren. Das ist meine größte Inspiration und mein Verderben. Längst weiß ich nicht mehr, was
von mir noch übrig geblieben ist. Die kleine Stimme ist noch irgendwo, schwach vernehme ich ihr
emotionales Seufzen. Aber im Moment ist sie einfach nicht stark genug, sich zu behaupten. Das
Vertrauen in sich selbst hast du zerstört, ohne jegliche Gewissensbisse. Und doch ist es allein dieser
süße Schmerz, der sie inspiriert und am Leben hält. Bleib noch ein bisschen, nicht lange, solange
nur, bis ich bereit bin, auf meine eigene wahre Stimme zu hören. Wenn ich bereit bin, werde ich
dich mit Ach und Krach verjagen. Jedoch nicht, ohne dir ewig dankbar zu sein.

 

Fotos: Daniel Graziadei