Über das Äußerste

Die Münchner Stadtgrenzen zählen wohl nicht zu den Orten, an die es einen treibt, wenn man sich durch die Stadt bewegt. Die Fotografinnen Verena Hägler und Nicola Reiter haben sich für ihre Arbeiten an den Rändern der Stadt bewegt und erzählen uns im Blog mehr über ihr Werk und welche Rolle Grenzen und Ränder für sie spielen.

Eure Ausstellung trägt den Titel „Rand“ – was bedeutete der Begriff für euch,wie definiert ihr ihn?

Verena Hägler: Der Rand einer Stadt, speziell im Münchner Nordosten, liegt relativ weit vom Zentrum entfernt und wird durch das Zentrum definiert. Hier treffen und vermischen sich städtische und ländliche Aspekte: es gibt noch landwirtschaftliche genutzte Flächen, viele Einfamilienhäuser, aber auch mehrgeschossige Wohnhäuser. Die Verkehrsführung ist hier wenig durchgeplant, das Gebiet ist weniger gut an den öffentlichen Nahverkehr angebunden, das Auto spielt eine sehr große Rolle. Es gibt wenig öffentliche Infrastruktur wie Einkaufsmöglichkeiten und Schulen. Viele der Anwohner wohnen bewusst in diesem Zwischenraum von Stadt und Land, relativ weit entfernt vom innerstädtischen Alltag, fühlen sich jedoch in politischen Belangen vom Zentrum, der Stadtpolitik, manchmal vernachlässigt und an den Rand gedrängt. Das Randgebiet des Münchner Nordostens möchte ich zudem als Transit-Raum bezeichnen, denn dort ist der Pendlerverkehr auffallend stark. Viele Verkehrsteilnehmer nehmen die kleinen kurvigen Straßen als Abkürzung, kommen jedoch mit dem Lebensraum dort kaum in Berührung, lediglich an den sehr wenigen öffentlichen Knotenpunkten wie dem Supermarkt oder am P+R-Parkplatz. Nach einigen Recherchen möchte ich behaupten, dass das schon immer so war: Nach den Römern sind die Salzhändler hier zu Pferd unterwegs gewesen, entlang dieser alten Wege sind sehr sehr früh erste Siedlungen und Kirchengemeinden entstanden. Das kostbare Pferd – ehemals Transportmittel – ist immer noch präsent: im Reitsport.
Nicola Reiter: Mir ist es wichtig, den Rand von zwei Seiten zu betrachten, nicht nur der Blickrichtung der Stadt folgend. Ähnlich wie es den Eurozentrismus gibt, so gibt es meines Empfindens nach auch eine Sichtweise, die das Urbane in den Mittelpunkt stellt und die städtische Lebensform als die Normale annimmt. Den Rand würde ich auch als den Übergang von einem Zustand in einen anderen oder von einem Raum in einen anderen definieren.

Wie nähert ihr euch dem Rand ästhetisch an?

N: Ich habe versucht, eine Ästhetik für meine Fotografien zu finden, die mit leichter und stärkerer Unschärfe arbeitet, mit Bildausschnitten, die wie zufällig erscheinen. Alle digitalen Bilder sind in der Bewegung des Laufens entstanden. Die Bewegung sollte ihnen eingeschrieben sein. Das betont die Zeitlichkeit und setzt sie in Bezug zum Raum. Diese Bilder habe ich mit Aufnahmen gemischt, die mit einer analogen Kamera entstanden sind. Hier bin ich im Gegensatz zu den Strecken mit der Digitalkamera für jedes Bild kurz stehengeblieben und wendete für diese Fotografien also eher eine Knips-Methode an. Ich fand es sehr gut, für die Ausgestaltung der Bildstrecken diese beiden Bildquellen sowie einige wenige schwarzweiße analoge Filme, die auf der Strecke auch entstanden sind, mischen zu können.
V: Ich beobachte die Landschaft des Münchner Nordostens und erstelle über einen längeren Zeitraum ein empirisches Archiv, das auf meinen persönlichen Beobachtungen beruht. Die Ursachen für das Aussehen der historisch und entsprechend topologischer Gegebenheiten entwickelten Landschaft liegen oft im Verborgenen und entstehen durch das Zusammenwirken von Natur und Kultur. Dafür sind gründliche Recherchen notwendig und ich finde es wichtig, möglichst verschiedene Perspektiven einzunehmen. Ich sehe mich als Sammlerin von Spuren und Fragmenten: oft sehr ausschnitthafte Bildern, Fundstücke wie Steine und Pflanzen, gefundenes Bildmaterial und Gesprächsnotizen. Aus diesen unzähligen und sehr unterschiedlichen Bruchstücken ergibt sich eine Art Mosaik, das keine bestimmte Leserichtung vorgibt, sondern dem Betrachter offenlässt, sich in und zwischen den Bildern zu bewegen. Ich hoffe, dass das Mosaik vielleicht auf etwas Umfassenderes verweist, dass dadurch der Landschaftsraum und die Atmosphäre dort, die Bewohner und ihr Bezug zu ihrem Lebensraum spürbar werden. Meine Arbeit ist eine langsame, sehr persönliche Annäherung an das Gebiet im Münchner Nordosten. Am Anfang war ich als Fremde dort auf öffentlichen Straßen unterwegs, blickte von außen auf hohe Hecken und durch Gittertore. Inzwischen darf ich immer öfter die Schwelle zum Privaten übertreten. Damit verändern sich auch die Bilder.

Ihr behandelt in euren Werken die Ränder Münchens – welchen Bezug habt ihr zu diesen „Zonen“ der Stadt?

N: Nicht nur in München, sondern auch in anderen Städten, in denen ich zuvor lebte, und die ich besuchte, haben mich die Zonen sehr interessiert und fasziniert, in denen die Stadt in etwas anderes übergeht; Acker, Land, Gewerbe, Brache, Hecke, Garten, Park, Wald, was auch immer. Die Ränder Münchens kannte ich vor allem vom Fahrten aus der Stadt hinaus, in Auto und Zug. Immer flog diese Übergangszone dabei viel zu schnell an mir vorbei. Immer verspürte ich den Wunsch, dort anzuhalten, um alles ganz genau wahrzunehmen und studieren zu können.
V: Ich interessiere mich schon seit langem für die Stadt und den stetigen Wandel von Stadt und der Gesellschaft. In einem früheren Projekt, „Küchen entlang der TeLa“, habe ich mich mit Obergiesing im Kontext der dortigen Veränderungen beschäftigt und anhand der Küche die Vielfalt von Architektur und Bewohnern dargestellt. Zum Münchner Nordosten hatte ich zu Beginn noch gar keinen Bezug: Die Informationen zur geplanten Stadtentwicklungsmaßnahme hatten mein Interesse dafür geweckt. Ich bin seit 2016 sehr häufig dort und habe das Gebiet für mich entdeckt und mag es sehr, auch weil es dort teilweise sehr anders ist als im urbanen Umfeld, in dem ich lebe.

Ist der Rand auch eine Grenze? Worin bestehen Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zwischen Rand und Grenze?

V: Ein Rand wird meines Erachtens durch ein Zentrum definiert wird und durch eine Grenzlinie begrenzt. Meist liegen die Ränder einer Stadt weiter vom Zentrum entfernt und können dadurch unter Umständen auch eine gewisse Autonomie entwickeln. Die Grenze funktioniert wie eine Kontur zugleich als Teil des Eigenen wie Teil des Benachbarten ist und definiert beides im Umriss. Oft sind Grenzverläufe willkürlich und in der Landschaft nicht unmittelbar wahrnehmbar. Für mich ist der Rand auch eine Art Zwischenraum zwischen dem Eigenen und dem Nächstliegenden, zwischen der Stadt und ihrem Umland.
N: Eine Grenze würde ich als von Menschen definiert verstehen und bezeichnen; eine Festlegung, Konvention. Ein Rand ist für mich etwas mehr Physisches, das ich mit meinen Augen erkennen und mit meinem Körpererfahren kann. Um die Grenze zu erkennen braucht es oft eine Karte oder ein digitales Navigationsgerät. Manchmal fällt die Grenze mit physisch erkennbaren Rändern zusammen, wenn sie beispielsweise an einem Fluß, an einer Straße, an einem Zaun entlangführt. Dann ist sie einfacher im Raum wahrnehmbar.

Der Rand ist das Äußerste einer Sache – welche Rolle spielen Extreme für euch und in euren Arbeiten?

N: Extreme spielten bereits in meiner Arbeit ›Firn‹ eine große Rolle. Es ist ein Buch, das von einem Sommer, dem Leben und Arbeiten auf einer Schweizer Alpenvereinshütte am Rand eines Gletschers auf einer Höhe von 2500 Metern und von existenziellen Erfahrungen berichtet. Auch das Begehen der Stadtgrenze, wenn auch kein gefährdender Landschaftsraum in dem Sinn, war für mich eine extreme Erfahrung. Ein gefühlt großes Maß an Einsamkeit, und teilweise inhumane Räume, die es zu durchwandern galt, prägten meine Etappen entlang der Stadtgrenze.
V: In meinen Arbeiten beschäftige ich mich sehr gerne mit mir Unbekanntem und versuche auch, die eigene Komfortzone immer wieder zu verlassen. In dieser Arbeit besteht das Extreme für mich vielleicht darin, Geduld zu behalten, mich in Ruhe einzulassen auf ein mir noch unbekanntes Gebiet, auszuhalten, dass lange nichts passiert, das anfängliche Ausgeschlossensein, das Verbleibenmüssen an den wenigen öffentlichen Orten, den vielen Nicht-Orten wie den Straßen, auf den schmalen wenigen Gehwegen, das Ertragen des Gefühls, ein Eindringling zu sein, immer wieder Misstrauen zu wecken durch das Fotografieren. Immer wieder bin ich damit konfrontiert, dass das Private das Öffentliche dominiert, es gibt wenige öffentliche Plätze und wenige Orte der zufälligen Zusammenkunft. Die Präsentationsform ist in gewisser Weise vielleicht auch extrem: Das Archiv wird in Ausschnitten wandfüllend installiert und nach der Ausstellung restlos abgerissen.

RAND
Zwei fotografische Positionen zur Stadtlandschaft an Münchens Grenzen
Verena Hägler // Nicola Reiter
30. November bis 8. Dezember 2018
Vernissage 29. November 2018 ab 19 Uhr
Di bis Fr 15–19 Uhr // Sa und So 11–17 Uhr
und nach Vereinbarung verena.haegler@web.de

Rahmenprogramm

Mi, 5. Dezember 2018 // 19 Uhr
Gespräch mit Jochen Meister/Pinakotheken
in der Ausstellung

Sa, 8. Dezember 2018 // 14 Uhr
Stadtrandspaziergang mit Verena Hägler und Nicola Reiter
Anmeldung und weitere Infos unter:
verena.haegler@web.de